Das Kreuz und die Kinder

Slavoj Žižeks ethisches Desaster

In seinem jüngsten Buch über Ethik und revolutionäre Gewalt erzählt Slavoj Žižek eine Begebenheit aus dem Vietnamkrieg. "Nachdem die US-Armee ein Dorf besetzt hatte, impften deren Ärzte die Kinder am linken Arm, um ihre humanitäre Fürsorglichkeit zu demonstrieren; als das Dorf am folgenden Tag wieder von den Soldaten des Vietcong eingenommen wurde, hackten sie allen geimpften Kindern den linken Arm ab." (SE 170f) Die sich an diese Schilderung anschließende Wertung der Episode will genau durchdacht sein. Die Vermutung liegt nahe, dass sie - da es sich der Form nach eben um eine Wertung und keine der bei Žižek üblichen scharfsinnigen Interpretationen handelt - mit dem Ziel des Schocks hingeschrieben wurde, um einen emotionalen Effekt der Öffnung zu erzielen, eine Konfrontation, die eine Entscheidung erzwingt, den Raum des Politischen jenseits des Offenkundigen eröffnet, rein performativ. Nun hat Žižek erst einige Seiten zuvor (SE 90f) auf das Exemplarische des Bilds vom vergewaltigten Kind "zwischen zwei und fünf Jahren" hingewiesen, das "eine der Gestalten des Absoluten" sei. "Wenn es je ein Bild gegeben hat, das die Levinassche These von der Wunde im Antlitz dargesetellt hat, dann ist es dieses." Wenn nun diese Verknüpfung vom Bild des vergewaltigten Kinds mit dem ethischen Entwurf - und zwar dem von Levinas, der den zentralen Ausgangspunkt der kritischen Ethik Žižeks bildet -, kein Zufall ist, dann kann jene erste Vermutung einer quasi ästhetischen Funktion der Vietnamerzählung nicht länger gehalten werden und es fragt sich, ob der Ersatz der fälligen Interpretation durch die apodiktische Wertung nicht etwas verbergen soll, etwas, dessen Žižek sich sehr bewusst ist, vor dessen Konsequenz er jedoch kneift.

Lesen wir zuerst jene Wertung: "Obwohl diese unbedingte Zurückweisung des Feindes ohne Rücksicht auf Verluste, gerade da, wo er sich von seiner hilfsbereiten, humanitären Seite zeigt, schwerlich zum konkreten Modell, dem zu folgen wäre, erklärt werden kann, ist die ihr zugrundeliegende Intention gutzuheißen." (SE 171)

Das Problem mit Žižeks ethischer Konsequenz liegt tief, sehr tief. Es betrifft den Kern, das Epizentrum des Žižekschen ethischen Entwurfs und ist an dessen Auseinandersetzng mit Levinas geknüpft. Žižek, der nichts geringeres versucht, als Levinas' Konzeption der Beziehung zum Anderen als der primordialen ethischen Bewegung mit einer "radikaleren zu kontern", errichtet seinen kritischen Entwurf erstaunlicherweise auf einem zentralen Missverständnis.

"Die anderen sind zunächst eine (ethisch) indifferente Vielheit, und Liebe ist die gewaltsame Geste, in diese Vielheit hineinzuschneiden und eine Eins als den Nächsten zu privilegieren, was natürlich bedeutet, ein radikaleres Ungleichgewicht in das Ganze hineinzutragen. Im Unterschied zur Liebe fängt Gerechtigkeit da an, wo wir uns der gesichtslosen Vielen erinnern, die bei dieser Privilegierung der Eins im Schatten geblieben sind. Gerechtigkeit und Liebe sind daher strukturell inkompatibel: Die Gerechtigkeit, nicht die Liebe muss blind sein, sie muss die privilegierte Eins, die wir 'wirklich verstehen', vernachlässigen. Das bedeutet, dass der Dritte nicht sekundär ist: Er ist immer schon da, und die vordringliche ethische Verpflichtung gilt diesem Dritten, der in der Beziehung von Angesicht zu Angesicht nicht da ist, sie gilt dem einen im Schatten, vergleichbar dem abwesenden Kind eines Liebespaars. Dies ist nicht einfach der Derrida-Kirkegaardsche Gesichtspunkt, dass ich den anderen notwendig immer verrate, weil 'tout autre est en autre', sondern ich verrate ihn, weil ich eine Entscheidung treffen muss, um auszuwählen, wer aus der Masse der Dritten mein Nächster sein soll - dies ist die Erbsünde, die Urentscheidung der Liebe." (SE 97)

Der Fehler liegt schlicht darin, dass die falsche Perspektive gewählt wurde, eine Perspektive, gegen die das Programm von Levinas gerade angestrengt ist. Das Zentrum der Žižekschen Lesart von Levinas ist das Ich, das die "gewaltsame Geste" der Liebe ausführt und ein Er zum Du privilegiert. Das Zentrum der Levinaschen Ethik allerdings ist das Du selbst, das das Ich anspricht (wichtig auch, die Formulierung im Passiv zu vermeiden, etwa: "das Ich wird angesprochen"). "Die absolute Erfahrung ist nicht Entdeckung sondern Offenbarung." (TU 87) Es gibt schlicht keine Wahl für das Ich, "wer aus der Masse der Dritten mein nächster sein soll". Das würde nämlich bedeuten, dass nicht die Beziehung zum Du oder Er, sondern die Selbstbeziehung des Ich primordial ist (ich muss mich entscheiden, wer...). Der Akzent von Levinas liegt dagegen auf dem Anspruch aus der totalen Transzendenz. Das Du spricht, und eben das bewirkt die Erschütterung des Ich. Jeder, der die Erfahrung der Liebe schon einmal gemacht hat, das Ereignis des Verliebens erfuhr, weiß, wie das Du erscheint, ohne dass Ich je eine Wahl gehabt hätte, im Gegenteil, die Wahl fällt auf das Ich, und alle Entscheidungen, die verbleiben, verbleiben innerhalb der Koordinaten dieser Erwählung. Mehr noch, das Ich konstituiert sich allererst aus diesem Anspruch. Entwicklungspsychologisch gäbe es ohne das wahrhaft große Du von Mutter/Vater (FM\other) wohl schwerlich je eine Besiedlung des Raums der Differenzen, den wir sozial nennen.

Dieser Unterschied zwischen Žižek-Levinas und Levinas-Levinas ist so tiefgreifend, wie nur etwas tiefgreifend sein kann. Gerade die Wendung zum Du ist der entscheidende Bruch mit der modernen Tradition, den Levinas vollzieht. Er entdeckt eine personale Subjektivität jenseits des Ich. Das ist die spezifische "kopernikanische Wende" seiner Philosophie. Levinas ist übrigens trotz seiner Nach-Modernität kein "postmoderner" Denker, noch nicht einmal ein Vorläufer der Postmoderne, wie es Derrida gern gehabt hätte. Das Zentrum besetzt bei Levinas eben nicht einfach die formale Differenz als solche, sondern die bestimmte Exterioriät des Du. Dieser "ersten" Differenz haftet nichts, aber auch gar nichts Kontingentes an. Weder ist das Du zufällig noch ist es seinerseits erwählt. Das Du, genauer der Anspruch des Du, "ist da". Seine unbedingte Erscheinung eröffnet eine grundsätzliche Exzentrizität, der das Ich seine Existenz verdankt (übrigens ist auch das Problem der Freiheit nur übers Du wirklich lösbar). Für Levinas ist der Begriff der Exteriorität wesentlich an die Asymmetrie von Ich und Du - mit dem Hauptgewicht beim Du - geknüpft. "Der Meister - in dem die Unterweisung und der Unterweisende zusammenfallen - ist nicht seinerseits eine beliebige Tatsache. Die Gegenwart der Manifestation des Meisters, der unterweist, überwindet die Anarchie der Tatsache." (TU 94) In diesem Sinn muss das "ist da" des Du gedacht werden. Es ist Sein, das mehr "ist" als jedes andere Sein.

Die Metapher des Meisters ist für Levinas zentral. Der Akzent, der dabei hörbar gemacht werden muss, ist aber vor allem jenes Zusammenfallen des Unterweisenden und der Unterweisung, das keineswegs in der schlichten Form der Identität daherkommt, sondern in der von Heideggers "Austrag", und als solche nichts geringeres als die Struktur der Offenbarung selbst verwirklicht, jener "absoluten Erfahrung", von der Levinas spricht.

Es erstaunt, dass Žižek die zentrale Stellung der Offenbarung übersieht, um so mehr, als er der Gründung der Levinasschen Philosophie in der jüdischen Religion intensiv nachdenkt. Nicht genug damit - seine eigene philosophische Praxis sieht er oft genug in formaler Äquivalenz zum paulinischen Christentum (würde er nicht gern der Paulus Lenins sein?), einer Religion, die in erster Linie Offenbarungsreligion ist. Dieses "in erster Linie" kann hier gar nicht überschätzt werden: die Offenbarung, der Anspruch ist die primordiale Geste, der Handlungsvollzug, der dem Wort-des-Meisters in eben der Weise wie dem Wort-im-Anfang zu Grunde liegt. Meister, Gott, Du sind austauschbare Metaphern. Es geht hier gar nicht um den Nächsten. Der Nächste ist auch nur Ich, Alter Ego. Das Du ist von radikal anderer Qualität. Es ist das, was mich anspricht, unterweist und das ich selbst nicht einmal beim Namen nennen kann, weil jeder Name das Absolute der Erfahrung des Du reduziert. Deshalb hat die jüdische Religion die Weisheit, die Namen Gottes zu tabuisieren. Letztlich ist sogar der Name "Gott" ein Tabubruch und der Ruf vom Tod Gottes die höchste Konsequenz des jüdischen Verbots. "Der Atheismus ist die Bedingung für eine wirkliche Beziehung mit einem wahren Gott kat'auto" (TU 106). Nur das konsequent atheistische Ich, das Ich ohne Halt im sprichwörtlichen "großen Anderen", kann im Offenen die Offenbarung hören, deren Kristallisationspunkt eben nicht der absolut indifferente große Andere ist, sondern das absolut konkrete Du.

Zurecht fordert Žižek die "vordringliche ethische Verpflichtung" für das "abwesende Kind eines Liebespaars" ein (wieder das Kind!), dies allerdings gegen seine eigene Ethik. Dieses Kind ist nämlich keineswegs das ausgeschlossene Dritte, sozusagen das erste Opfer der Liebe (wie man meinen könnte, wenn man an die verbreitete Weigerung, Kinder zu bekommen, in den gutsituierten, liberalen Partnerschaften der Gegenwart denkt), sondern dieses abwesende Kind ist das eigentliche Du des Paars (nicht der Einzelnen, Mann und Frau, sondern: des Paars), dessen Anspruch es gründet (schließlich darf man bei aller Liebe zur Liebe nicht vergessen, dass der Liebesakt dieser nicht sekundär ist, zudem im eigensten Sinn "geschichtsträchtig"...). Ironischerweise spürt auch Žižek die Außerordentlichkeit des Du - nur erträgt er sie nicht und kehrt sie in "Sekundäres". Sie fordert nämlich in einem Maß ein anderes Denken, wie es selbst ein Großmeister der Originalität nicht immer wagt.

Für Žižek "ist das primordiale Paar in ethischen Dingen ... das Paar, das vom unpersönlichen Anderen und mir gebildet wird, also er/ich. 'Du' ist eine sekundäre Hinzufügung." (SE 98) In dieser zentralen Aussage ist ein weiterer entscheidender Fehler verborgen, nämlich der, das Dritte zum Paar Ich/Du als Er zu bezeichnen. Was es sonst sein soll? Zur Lösung dieser Frage lohnt es, auf den anderen Philosophen des 20. Jahrhunderts zurückzugreifen, der sich dem Problem des Du mit einem tragfähigen Entwurf widmete, auf Gotthard Günther.

Nun sind die logischen Versuche von Günther wenig bekannt und noch weniger populär, auch und gerade innerhalb der philosophischen Akademie. Trotzdem bieten sie - auch durch ihren fragmentarischen, was heißt, offenen Charakter - die Chance, eine "transklassische" Sprache zu finden, die der Komplexität einer ausgearbeiteten Philosophie des Du das formale Rüstzeug an die Hand gibt. Es kann kaum ein Zufall sein, dass Günthers Monografie von 1959 (IG), in der er sich um eine Entwicklung seiner "Nicht-Aristotelischen Logik" bemühte - dem "philosophischen Problem des Du" gewidmet ist. Es ist wie bei der Infinitesimalrechnung, die von Newton und Leibniz parallel entdeckt wurde, weil es an der Zeit war. Levinas hat zurecht die allgemeine Anerkennung auf seiner Seite, aber Günther hat es auch schon gewusst.

Die Motivation Günthers, seine transklassische Logik zu entwickeln, beschreibt er in einem Aufsatz aus dem Jahr 1953 so: "Das Problem ... ist nicht, wie jedes 'Ich' für sich denkt (dafür ist die klassische Logik unüberbietbar!), sondern wie sich für jedes beliebige Ich der gesamte rationale Zusammenhang zwischen Subjekt-überhaupt und Objekt-überhaupt darstellt, wenn das andere Ich im eigenen Denken als 'Du' thematisch festgehalten und ausdrücklich nicht als Ich (aber auch nicht als Objekt!) gedacht wird." (BGoD I 27) Zwar hält Günther hier oberflächlich betrachtet am Konzept vom Du als Alter Ego fest. Bei genauerem Nachdenken zeigt sich jedoch, dass die Stellung des Du in der Welt hier als ebenso radikal "anders" gegenüber allen Weltinhalten sonst gedacht wird wie bei Levinas. Das Entscheidende in Günthers Entwurf ist, dass das Du weder reines Subjekt, noch reines Objekt, noch auch absolutes Subjekt ist, sondern ein "objektives Subjekt", das weder einfach zum Objektiven noch einfach zum Subjektiven gehört. Es steht allem fern, oder wie Levinas sagen würde, es steht in der Exteriorität.

In Günthers Logik gibt es kein "Er". Was Žižek so bezeichnet, ist doch wieder nur ein anderes Du, dessen ontologischer Ort aber derselbe ist wie von diesem Du. Das ist es, was Levinas meint, wenn er schreibt: "In den Augen des Anderen sieht mich der Dritte an." (TU 307f) Es gibt nur Ich und Du (auf dieser Stufe) der ethischen Debatte, jenseits dessen steht das Es, das reine Objekt. Žižeks "Er" ist entweder nur ein weiterer Name des Du, oder ein Es, subjektlose Verfügungsmasse des Ich, welches das Es in seine Welt zieht, und dabei den immanenten Widerstand dieser Operation einfach ignoriert. Das Du nämlich lässt sich nie ganz in die Welt ziehen. Es weist immer darüber hinaus, ragt in die Transzendenz und bleibt unberechenbar. Wer mit ihm abrechnen will, in der großspurigen Geste "entwurzelter Gerechtigkeit" (SE 99) hat nur eine Wahl: es zum Es zu degradieren und das eine verbleibende Subjekt ins Absolute zu spiegeln. Dies aber ist genau die totalitäre Operation der Reduktion thematisch reicherer Logik auf die Zweiwertigkeit, eine Operation, die geradezu das Grundmuster des modernen Diskurses darstellt. Daher die Immannez der Nacht im Weg zum Licht. Das Jenseits von Nacht und Licht, das offenbare(nde) Du, der einzige Garant nicht einfach neuer Erde, sondern eines "neuen Himmels", wie Günther es nennt, kommt hier nicht vor.

Nun unterscheiden sich die Ansätze von Levinas und Günther zumindest in einem zentralen Punkt, dem der Perspektive, wie es schon über Žižek gesagt wurde. Auch für Günther wird der erste Akt vom Ich allein gespielt. Es wäre gewiss interessant, die Struktur einer Logik zu untersuchen, die dem Levinasschen Postulat folgt. Das Umtauschverhältnis zwischen Ich und Du, das bei Günther immer wieder begegnet, ist, wie schon gesagt, ohnehin bereits asymmetrisch. Das kann hier nicht weiter verfolgt werden.

Wenn oben vom "offenen Charakter" der Güntherschen Entwürfe die Rede war, kann das getrost wörtlich genommen werden. Es braucht einen "offenen Charakter", um die Offenbarung vernehmen zu können, und so sehr die Struktur von Levinas' Meister die der Offenbarung ist, gibt die Logik Günthers das formale Rüstzeug an die Hand, die "Sprache der Offenbarung" nicht nur hören, sondern vielleicht sogar sprechen zu lernen. Eine der zentralen Entdeckungen Günthers ist die logische Operation der Transjunktion, die man sich als die Zurückweisung einer Alternative vorstellen kann. Vor die Wahl gestellt, sich für A oder B zu entscheiden, sagt man: "Das ist die falsche Wahl". (Natürlich ist nicht die Operation selbst neu, sondern der logische Formalismus, der sie mit einbezieht.) Die Transjunktion ist damit die formale Figur, mit der eine Handlung zu beschreiben wäre, die überhaupt erst den Raum fürs radikal Andere, den berühmten "revolutionären Sprung" denkbar macht. Damit ist sie nichts Geringeres als jene logische Operation, die als erster Kandidat für die Beschreibung der Offenbarung gelten muss.

So wie Žižek die Rolle der Offenbarung verkennt, so unterschätzt er auch die Bedeutung des Beispiels. Genau das nämlich ist es, was, um bei der christlichen Metaphorik zu bleiben, in Christus den Sohn Gottes erkennen lässt. Es ist nicht einfach das gesprochene/geschriebene Wort, das die Offenbarung trägt (etwa "die Schrift", weder im Sinn Luthers noch im Sinn Derridas), sondern jene schöpferische - transjunktive - Geste, die wir als Beispiel bezeichnen und in der, mit Levinas, "die Unterweisung und der Unterweisende zusammenfallen". In der Praxis des Zen-Buddhismus begegnet sie in der Form des Koan, jenem die Lehre tragenden "Fingerschnippen", das dem, der schon offen dafür ist, die Erleuchtung bezeugt. Erst recht aber begegnet es im Kreuzestod Jesu, dem ultimativen Beispiel, das Gott gibt, indem er sich als Mensch dem Menschen opfert und ihn damit zugleich erlöst. (Das ultimative Beispiel der russischen Revolution ist natürlich das der Kronstädter Matrosen, das bis in die Danziger Werft und die deutsche Revolution von 1989 widerhallte). Erst dieses beispielhafte Handeln trägt die Offenbarung, erst das Opfer selbst weist alle falschen Alternativen zurück (Tarkowskis Film "Opfer" zeigt, wie erst ein "verrücktes" Handeln im elementarsten Sinn eine andere Welt eröffnen kann). Dieses Handeln ist der eigentliche Anspruch des Du. Auch Levinas sieht das nicht. "Die Handlung drückt nicht aus. Sie hat einen Sinn, aber sie führt uns zum Handelnden in seiner Abwesenheit." Zwar gesteht er zu, dass "Gesten, begangene Handlungen, wie Worte zur Offenbarung werden" können (TU 89), doch die letzte begriffliche Konsequenz, nach der solche Handlungen nicht erst Worte werden müssen um Wort zu sein, scheut er noch.

Wenn wir uns weiter auf die Metapher der Religion einlassen wollen, dann soll noch gesagt werden, dass es heute ganz sicher nicht darauf ankommt, einer bestehenden "Religion" der Emanzipation die paulinische Institution zu verpassen (wie es Žižek wahrscheinlich erträumt). Vielmehr kommt es darauf an, den emanzipatorischen Kern der Offenbarung selbst, der in den Offenbarungsreligionen verschlüsselt ist, im Rahmen einer "Religion" offenzulegen, die das Religiöse selbst emanzipiert, indem sie die Handlungsstruktur des Offenbaren(s) (das, was offenbar ist: das Offenbaren) freilegt. Nur so ließe sich etwa jene "neue Form von De- und Reterritorialisierung" (SE 160) finden, die Žižek nahelgt, nämlich die Deterritorialisierung einer Welt des emanzipierten Religiösen und die Reterritorialisierung der "Gemeinde", deren Struktur allerdings weder die der kommunitaristischen Gemeinschaft noch die der (ur-)kommunistischen Assoziation sein könnte, sondern nur die einer Pluralität des Du, die eben weder eine der Iche noch eine des Wir ist. Alles andere verbliebe im Kreislauf der Wiederkehr des Ewiggleichen, bliebe Mystik des positiven Inhalts anstatt der wahren Positivierung zu genügen, der immanenten Handlung des Worts.

Gewendet auf die einarmigen Kinder von Vietnam liefe das alles darauf hinaus, die Alternative zwischen den impfenden Amerikanern und den amputierenden Vietcongs als solche zurückzuweisen. Stattdessen gilt es, das Offenbare der "Gestalten des Absoluten" - im Plural des Du - zu vernehmen, das der gefolterten Kinder mit den Armstümpfen, deren weinende oder schon nicht mehr weinende Augen mit der Dringlichkeit ihres Beispiels uns den unhintergehbaren Anspruch aufgeben. Jede ernsthafte Analyse dieses Beispiels hätte Žižek zu der Erkenntnis geführt, dass er sich mit seiner Ethik "entwurzelter Gerechtigkeit" in Wahrheit nicht für das "Er", sondern für die folgenschwere Reduktion des Du auf das Es entschieden hat. Deswegen seine Zuflucht zum Gutheißen. Die Kinder der abwesenden Liebe jedenfalls haben das Urteil über diese Gerechtigkeit schon gesprochen.


(BGoD) Gotthard Günther, Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Hamburg, I 1976, II 1979, III 1980.

(IG) Gotthard Günther, Idee und Grundriß einer nicht-Aristotelischen Logik. Hamburg 1959.

(SE) Slavoj Žižek: Die politische Suspension des Ethischen. Frankfurt am Main 2005.

(TU) Emmanuel Levinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Freiburg 1993 (Totalité et Infini. Essai sur l'extériorité, 1961)

 

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