Wir haben Licht gemacht

Konsumgesellschaft oder Demokratiea

I

In einigen Schaufenstern fehlten an den Waren die Preise. Letzten Herbst saß ich in den Berliner Potsdamer-Platz-Arkaden auf einer kleinen Bühne und las aus meinem aktuellen Roman vor. Aus den Augenwinkeln nahm ich den trägen Strom der Andächtigen wahr, der an den Waren entlangzog. Das Gemurmel war tosend. Aus den Lautsprechern, die dort überall installiert sind, hörte ich wie sonst Musik ertönt hinter allem die eigene Stimme, hohl und entleert. Die Sätze, die ich las, waren an Einfachheit und Primitivität kaum mehr zu unterbieten, trotzdem war nichts zu verstehen. Wenn ich aufschaute, musste ich blinzeln.

Das Licht war grell, tat weh, besaß die Macht, als wäre es aus einem Osten, der sich überallhin erstreckt, durch die hohen Fenster hinterm Altar eines Doms eingefallen. Alles war aus Glas, Wände, die Treppengeländer, Balustraden, beinahe schien es, auch der Boden und die Emporen samt der sie tragenden Säulen wären aus Glas, um das Licht nicht zu behindern. Es war derart gleißend, dass es mich durchdrang, unsichtbar werden ließ. Ich hatte es so gewollt.

Wolfgang Hilbig konnte in seinem 1983 geschriebenen Prosatext "Die Territorien der Seele"1 den Ich-Erzähler im Warenhaus noch vor einem Spiegel verharren lassen, in dem er die abgründig vernebelte Ebene seines Wesens sah, ohne sie betreten zu können. "Ewig an der Peripherie des Unendlichen, ach ..." Wenigstens hatte er etwas gesehen, das zählt, konnte am Ende guten Gewissens und provokatorisch die Seelen der Konsumenten zu kaufen wünschen. Im 2000 erschienenen Roman "Das Provisorium"2 fährt der Schriftsteller heimatlos auf den Rolltreppen der Einkaufstempel auf und ab, geht im überall suggerierten Durchblick unwiederbringlich verloren. Er ist fremd. Wo alle alles zu sehen bekommen, schaut er die Blindheit.

Übers Scheitern nachzudenken, das versagen sich die meisten. Es ist schmerzhaft und ungehörig. Wir leben in der Welt des Erfolgs. Dies nicht nur, weil einzig der Erfolg zu zählen scheint in den öffentlichen Wertungen. In der Struktur dieser Welt ist jede Alternative verschwunden. Es gibt nichts, was darüber hinausweist. Die Transzendenz ist tot. Weder gibt es Grenzen noch Horizonte. In keine Richtung ist der Blick verstellt mit etwas, das nicht transparent wäre wie das Glas im Arkadentempel, um dahinter die Waren sichtbar werden zu lassen. Die Pornografie der Produkte ist die gültige Darstellungsform unserer Zeit. Alles gehorcht ihr. Wir spielen im Theater der Anpreisung.

Der Erfolg dieser Welt schlägt auf jeden Einzelnen zurück. Das muss nicht schmerzhaft sein und hinterlässt doch untilgbare Spuren. Wer nach vorn hin anpreist, der wird von hinten ausgepreist. In einem Fernsehspot der konsumkritischen Werbeagentur Adbusters3 wird ein Fernsehzuschauer gezeigt, auf dessen Nacken ein Strichcode tätowiert wurde. "Das Produkt sind Sie." Das ist die Wahrheit von "Big Brother". Wo wir alles zu sehen scheinen, werden wir selbst gesehen. Keine metaphorische Distanz gibt es zwischen uns und dem, was präsentiert wird. Aktivität und Passivität sind in eins gefallen. Übrig bleibt die totale Verfügbarkeit. Die Mattscheibe ist nicht der Spiegel, sondern die Kamera. Zuschauer gibt es keine. Rührend war es, wie der Rheinland-Pfälzische Ministerpräsident Beck mit seiner moralischen Empörung das Vorspiel zur Kontainer-Show lieferte. Die Skandale der Gegner gehören zum Konzept.

Auch der Spot von Adbusters hat seine Wahrheit, die im Performativen erscheint. Schon die bloße Existenz einer konsumfeindlichen Agentur müsste die Augen öffnen. Nur mit den Mitteln der Werbung scheint Kritik heute überhaupt möglich zu sein. Der Protestkonzern Greenpeace zieht alle Register der Eventkultur, um seine Anliegen zu verbreiten. Kein Mittel der Aufmerksamkeitsindustrie wird ausgelassen. Wenn Gegner der Globalisierung ausgerechnet McDonalds-Filialen zerstören, bestätigen sie nur den Anspruch des Frikadellen-Discounters, das Flaggschiff der westlichen Welt zu sein.

Als ich im Einkaufszentrum saß und meine fahrlässig flach gehaltene Literatur zum Besten gab, begriff ich mein komplettes Scheitern. Seltsamerweise empfand ich es als Befreiung. Neben der Bühne stand der übliche Büchertisch. Die Bände waren hoch gestapelt. Die Besucher der Mall liefen daran vorbei. Hin und wieder nahm einer ein Buch in die Hand, schaute nach dem Preis, stellte es wieder zurück und wandte sich den Schaufenstern zu, wo das Fehlen der Preise ihre Macht um so intensiver bestätigte. Am virtuellen Fetisch entzündet sich das perverse Begehren erst recht. Instinktiv erkannten sie alle in mir den Hochstapler, der ich war. Ein Schriftsteller, der spielt, er würde einen Schriftsteller spielen. Ich präsentierte mich freiwillig als Ware, um mir damit zu beweisen, nicht schon längst eine zu sein.

Das war mein Scheitern. Ich hatte geglaubt, entkommen zu können. Deswegen hatte ich zu schreiben begonnen und so geschrieben, wie ich es tat. Es war das mühsame Unterfangen eines Fluchtversuchs. Jede poetische Wendung, die mir gelang, hielt ich für eine Bewegung der Feile. Mit jedem Satz glaubte ich mich der Möglichkeit näher, ein Loch in die Opazität der Welt brennen zu können, durch welches das Licht der transzendenten hätte scheinen können. Stur hoffte ich auf die Epiphanie. Unerfahren wie ich war, sah ich nicht, dass die Opazität selbst aus Licht gemacht ist und für das Unsichtbare längst kein Schatten mehr bleibt. Die Bewegungen, mit denen ich mich nach der Freiheit streckte, waren niemals meine gewesen. Sie gehörten, wie sehr ich mich auch um Originalität bemühte, von Anfang an zum Instrumentarium des Weltentwurfs, der mein Gefängnis wurde. Ich war ein Computer, der nicht begriff, dass ihm, so wie er programmiert war, Freiheit unmöglich blieb. Der Weltentwurf ist der kapitalistische. Heute ist er total und pervers.

II

Untrennbar ist der Anspruch, das private Glück jedes Einzelnen zum Maß zu machen, an eine demokratische Verfassung geknüpft. Die Trikolore symbolisiert Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als Rahmenbedingungen. Von den großen Revolutionen zum Ende des 18. Jahrhunderts bis heute ist davon wenig umgesetzt worden.

Gegen das absolutistische Machtverständnis der Aristokratie setzte die bürgerliche Avantgarde das Prinzip der Gewaltenteilung. Von Anfang an sollte die Möglichkeit von Machtmonopolen ausgeschlossen werden. Die gegenseitige Kontrolle verfassungsgemäß unabhängiger Systeme sollte gewährleisten, dass keine Macht über die Bürger absolut verfügen kann.

Durchs Grundgesetz ist das gewährleistet. Allerdings muss die Idee der Gewaltenteilung weiter gedacht werden, kann nicht auf die politischen Institutionen beschränkt bleiben. Eine echte Demokratie zeichnet sich durch die parallele Existenz verschiedener Daseinsentwürfe aus. Freiheit verwirklicht sich in der Entscheidung. Dazu muss überhaupt etwas zur Entscheidung stehen. Wahl will Alternativen. Gibt es die nicht oder erweisen sie sich als scheinbare, dann kommt eine höhere Form der Freiheit ins Spiel - die schöpferische. Sie schafft eine Alternative, wo es keine gibt.

Oft wird die Idee der Gleichheit dahingehend missverstanden, eine Übereinstimmung der Lebensentwürfe von Mensch zu Mensch wäre angestrebt. Das ist Unsinn. Es geht um Chancengleichheit. Jeder soll in gleichem Maß die Möglichkeit haben, seinen Entwurf auszuleben, oder, was tiefer geht, einen neuen vorzustellen. Es gilt die strukturellen Barrieren abzubauen, die dem entgegenstehen. Hier kollidiert die Gleichheit mit der Freiheit, und die Brüderlichkeit kommt ins Spiel. Damit jeder seinen Lebensentwurf bestmöglich umsetzen kann, muss er bereit sein, sich dort zurückzuziehen, wo er andere bei der Umsetzung ihrer Entwürfe behindert. Das verlangt ein unablässiges Verhandeln, die dauernde Bereitschaft zum Kompromiss, der den Raum des Möglichen erweitert.

Demokratie verwirklicht sich über die Existenz von Alternativen, mehr noch, sie stirbt, werden nicht ständig neue hervorgebracht. Sie ist das dynamische Gesellschaftssystem per se. Es in Gang zu halten, bedarf es der Freiheit zum Schöpferischen. Einzig dort, wo der Fehlversuch nicht zum Scheitern führt, ist alles in Ordnung. Grundvoraussetzung ist die Möglichkeit selbstbestimmter Aktivität. Freiheit zeigt sich im Machen, das mehr ist als bloßes Ausführen. Es wird etwas hervorgebracht, dass es so zuvor nicht gab. Das Maß seines Funktionierens ist die Zahl der erzeugten Alternativen. So ist das demokratische, richtig verstanden, zugleich das wirklich poetische Konzept.

In einem Artikel in der ZEIT4 rief Richard Herzinger zum Endziel der Demokratie das fröhliche Konsumieren aus. Ausgerechnet die Fixierung auf den Massenkonsum sei es, die alle Fortschrittsanstrengungen auf das private Glück des Einzelnen fokussiere. Die Leitkultur unserer Tage sei die "Konsumentendemokratie". Mit dieser Behauptung trifft er ins Schwarze.

Auf den ersten Blick sieht es tatsächlich so aus, als wäre in der freien Wahl, die der Konsument zwischen alternativen Produkten hat, die Idee der Demokratie konsequent verwirklicht. Das Angebot ist komplett, kein Wunsch muss unerfüllt bleiben. Die Schaufenster sind erleuchtet und die Warenlager werden "on the fly" nachgefüllt. Von überallher strahlt uns das Licht der Verfügbarkeit entgegen. Unsere Welt könnte ein Schlaraffenland sein, gäbe es nicht einen Haken, den Herzinger unbeleuchtet läßt.

Dummerweise ist kein Produkt umsonst zu haben. Die Verfügbarkeit bleibt ans Vermögen geknüpft, allen ideologischen Kapriolen der Werbeindustrie zum Trotz. Zu Vermögen kommt, wer sich bereitwillig selbst als Produkt anbietet. Dazu ist jeder gezwungen. Längst ist neben der Arbeitskraft auch der Konsument zur begehrten Ware geworden. Davon zeugt der blühende Handel mit Adressen und Kundenprofilen, der mit der neuen Internetwirtschaft erst so richtig in Fahrt kommt. So entpuppt sich die "Konsumentendemokratie" als ein totaler Markt, auf dem nicht nur Hard- und Software, sondern vor allem auch Wetware gehandelt wird.

Die Beteiligung an dem, was heute bürgerliches Leben ausmacht, steht nicht allen frei. Schon ein flüchtiger Blick auf die Realität unserer Gesellschaft zeigt, dass sie eine von Vermögensklassen ist; darauf hat erst jüngst wieder Paul Nolte hingewiesen5. Der Zugang zu den immer mehr an Bedeutung gewinnenden Kommunikationsforen ist eng ans Geld geknüpft. Wer es nötig hat, weil er nicht schon als Vermögender geboren wurde, verliert im täglichen Geschäft der Selbstvermarktung schnell jede echte, kreativ auf Alternativen zielende Handlungsfähigkeit und verkommt zum devoten Aufziehmännchen. Dabei sind Ideen zwar durchaus gefragt, nur den Rahmen dürfen sie nicht sprengen. An die Stelle kommunikativen Handelns selbstbewusster Subjekte tritt das Teamwork, bei dem nur das Ganze zählt.

Die Chancengleichheit entgleitet uns mehr und mehr, solange im Namen der Freiheit die Brüderlichkeit zur Seite gedrängt wird. Im politischen Geschäft heißt dieser Vorgang: Umstrukturierung des Sozialstaats. Allerdings fragt sich, ob Konsumenten überhaupt brüderlich sein können. Kaum etwas verlangt so viel schöpferisches - und eben nicht bloß kaufkräftiges oder marktfähiges - Vermögen, wie die Gewährleistung der Lebensentwürfe anderer. Liebe ist nicht zufällig eng an Poesie geknüpft. Sie gelingt nur dort, wo es eine Bereitschaft gibt, gemeinsam nicht zur homogenen Summe, sondern zur komplementären, heterarchischen Einheit zu werden. Die poetische Sprache ist parataktisch. Dichter und Liebende wissen davon. Wer sie sprechen kann, weiß vom Urbild des Machens. Liebende liegen beieinander. Sie küssen nicht sich, sondern einander. Wer das Licht, das aus der schöpferischen Liebe zu strahlen vermag, gesehen hat, der weiß, das Licht der Malls ist ein falsches, weil es nur sehen lässt, was genommen werden soll.

Massenkonsum will Massenproduktion und die führt unweigerlich zu Homogenität, die nur durch geschickte Verpackung und Image auf heterogen getrimmt werden kann. Das klassische Wort für derartige Homogenität ist "Monopol". Das existiert nicht nur als Marktbeherrschung, sondern vor allem als die totale Alternativlosigkeit, mit der ich mich auf den abgesteckten Bezirk bescheiden muss. Weil ich zur Wahl eines Produkts gezwungen bin, habe ich keine. Im Feedback werde ich selbst zum Produkt, das den anderen Konsumenten aufs Haar gleicht, egal, ob ich mir die Haare färbe oder abrasiere. Nicht zu konsumieren oder sich nicht zur Ware machen, wird zu einem Akt des Unmoralischen, Subversiven, Obszönen.

Der Prototyp des Konsumenten ist der Fernsehzuschauer. Er sitzt auf der Couch, knabbert Chips und träumt von dem, was ihm vorgesetzt wird. Im Endeffekt ist er das selbst, Teil der Verfügungsmasse, um die gefeilscht wird. Alle Aktivität, die ihm zugestanden wird, ist eine scheinbare, gleich, ob er zwischen Programmen, Burgern oder Parteien hin und her zappt. Eine echte Wahl würde eine Alternative erzeugen. Dazu ist der konsumierende Zuschauer gar nicht in der Lage, solange er bleibt, was er ist - bloßes Resultat.

Genau daher rührt die verbreitete Unzufriedenheit im Konsumparadies. Extremsport, Therapie, Abstinenz vom Politischen heißen einige Symptome. Die kommen nicht aus der Langeweile, sondern der Ohnmacht. Ohne Willen wird der Mensch panisch. Wenn das Subjekt Schiffbruch erleidet und untergeht, schlägt es in seinem Versuch, sich noch immer für etwas zu halten, irre Kapriolen. In James Camerons "Titanic" kommen die Menschen im Angesicht des Unausweichlichen auf alles mögliche. Sie musizieren, schießen auf sich und andere, verfallen dem Rausch und verirren sich in Eifersucht, die alles und jedes nur als Besitz ansehen kann. Das sinnvolle Handeln bleibt den Liebenden vorbehalten. Nur sie glauben bis zum Ende an die Möglichkeit der Rettung, deren Rationalität in der entarteten Schiffsgesellschaft für irrational gehalten werden muss.

III

In seinem Film "Brother" lässt der japanische Regisseur Takeshi Kitano einen ausgemusterten Yakuza-Kämpfer aus seiner durch Traditionen reglementierten Welt nach Amerika emigrieren. Dort kommt er beim Bruder unter, der sich, bloße Karikatur eines Gangsters, mit seinen Buddys als Kleindealer durchschlägt. Der Emigrant schaut dem Treiben nicht lange zu. Mit der Entschlossenheit eines japanischen Ritters metzelt er die Konkurrenz nieder und baut seine eigene Yakuza-Familie auf. Macht und Reichtum sind der Lohn. Alles geht gut, bis man der Mafia in die Quere kommt.

Für die Welt des organisierten Verbrechens gilt das Recht des Stärkeren. Die ganze Loyalität gehört der "Familie", während nach außen hin alles erlaubt ist, um ihren Reichtum und Einfluss zu mehren. Das ist bei den Yakuza nicht anders als bei der Cosa Nostra oder der Russenmafia. Im Distrikt hat Ruhe, wer sich mit den Herrschenden arrangiert. Schutzgeld und Prozente vom Gewinn bilden eine Art Steuersystem, das sich kaum von dem eines Staats unterscheidet.

Die Yakuza im Film leben, wie es auf den ersten Blick scheint, alte Samurai-Riten aus. Allerdings geht es nicht um Ehre und um die Herrschaft des Fürsten, sondern ums Geld. Am Ziel lässt sich die restlose Modernität des Verhaltenskodex erkennen, der von denen, die ihn leben, für alt und traditionell gehalten wird. Die Mafia ist ebenso ein Kind des Kapitalismus wie der Nationalstaat. Organisierende Traditionen, die scheinbar weit in die Vergangenheit zurückreichen, sind in Wahrheit nicht älter als die Institutionen selbst. Der Rest ist Mythos. Stets geht es um eine Integration des Subjekts in die übergeordnete Einheit. Das Ergebnis ist eine ehrenwerte Gesellschaft, wo der Einzelne nichts ist und allein die Summe zählt. So sind alle Totalitarismen des 20. Jahrhunderts genuine Kinder der kapitalistischen Gesellschaft. Die nächste Runde im Versteckspiel vor der Demokratie werden, das steht zu befürchten, rechtspopulistische Variationen im konsumistischen Narrenmantel bestreiten. Das im Schlaraffenland verlustig gegangene Subjekt soll durch ein Konstrukt aus neu erfundenen Traditionen und Abhängigkeiten ersetzt werden. Was innen zerfließt, wird von außen umtopft. Wie im Film der Kodex des Samurai das Geschäft der Kapitalakkumulation ummäntelt, so verkleiden die Krieger der Markttotalität sich mit demokratischen Floskeln.

Im Parteiprogramm der FPÖ6 lässt sich nachlesen, wie das Zusammenspiel aus Eigenverantwortung und Pflichten gegenüber dem "Volk" gedacht ist. Die Freiheit des Einzelnen sei das höchste Gut, steht dort. "Der Einzelmensch ist jedoch stets in eine Gemeinschaft gestellt, von der Familie bis zum Volk, die ebenfalls selbständig Träger von Freiheitsrechten ist." Volk und Familie werden als "organisch gewachsene Gegebenheiten" angesehen, so als wären die Nationen nicht im Begriff sich aufzulösen, als müßte im Zeitalter der mobilen Beziehungen nicht vollkommen neu definiert werden, was eine Familie ist.

Eigenverantwortlich bleibt der Einzelne nur in bezug auf die Kosten, die er verursacht. Wenn der Yakuza einen Fehler macht, muss er sich den Finger abschneiden. Wer im kombattanten Spiel der Kräfte beiseite gedrängt wird, soll nicht länger auf ein staatliches Sozialsystem hoffen können. An dessen Stelle tritt das Almosen. Organisierte Hilfe nämlich, so die freiheitliche Vorstellung, schmälert den Reichtum des Volkes.

So wie die Mafia die perverse Karikatur des Staats, so stellt das rechtspopulistische Modell eine der Demokratie dar. Mit der totalen Marktgesellschaft wird die Zivilisation durch die freie Wildbahn ersetzt. Das Andere, die Alternative, erscheint nur als mythisches Volkskonstrukt, in das der Einzelne eingeschweißt bleibt. Wer nicht dazugehört, ist der Feind. Aus dem Boden gestampfte Tradition soll die Leute bei der Stange halten. Darüber hinaus gibt es nur noch Konkurrenz. Als Lohn wird uns das totale Konsumparadies auf die Fernsehschirme projiziert, während an den Zehen schon längst das Preisschild baumelt.

Die gegenwärtige Welt, in der das Subjekt günstigstenfalls noch als Pappschachtel für den Aufdruck von Markennamen taugt, ist eine der "Konsumentengesellschaft", die mit Demokratie herzlich wenig zu tun hat. Der Erfolg von Haider und Co ist kein Menetekel der Zukunft, sondern faktische Realität zum Beginn des 21. Jahrhunderts. Er speist sich aus der Alternativlosigkeit des kapitalistischen Weltentwurfs.

Prolog

Das Licht in den Einkaufstempeln blendet. Nehmen wir am Springbrunnen Platz, dann verschwinden wir und erscheinen wieder als bunte Kartons, die hinter Glas zum Kauf stehen. Schnell werden wir zu Ladenhütern. Wohin wir auch zappen, den Augen begegnet nichts als der eigene Geldwert, der sich im Spiegelspiel der Selbstvermarktung schon aufgebraucht hat. Das geht, bis wir die Fernbedienung in den Müll werfen, weil wir bedient sind.

Dann gehen wir hinaus und stehen wahrscheinlich im Regen. Wir sind gescheitert, doch gerade in der Anerkenntnis dieser Katastrophe liegt die Chance. So erging es mir, als ich nach der Lesung das Einkaufsparadies verließ und den langen Weg heim zu Fuß bewältigte, überzeugt, mehr stünde mir nicht mehr zu. Am nächsten Tag taten mir die Beine weh - aber so spürte ich auch, dass ich welche hatte. Seitdem meide ich Rolltreppen.

Zu verlieren gibt es nichts mehr. Es ist alles schon weg, der Wille, die Sprache, die Schöpferkraft. Erst wenn wir begreifen, wie arm wir sind, können wir neu beginnen. Dann winkt als Lohn all das, was fremd ist, weil es noch nie existiert hat.


[a] "Akzente", 48.Jahrgang, Heft3, Juni 2001 S.265-273

[1] Wolfgang Hilbig, "Die Territorien der Seele", in: "Die Territorien der Seele"; Berlin 1986.

[2] Wolfgang Hilbig, "Das Provisorium", Roman; Frankfurt am Main, 2000.

[3] http://www.adbusters.org

[4] Richard Herzinger, "Endziel Konsum", in: ZEIT 45/2000.

[5] Paul Nolte, "Unsere Klassengesellschaft", in: ZEIT 2/2001.

[6] http://www.fpoe.or.at

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