Notiz zum Haiku

Am nächsten kommt man dem Haiku nicht, wenn man es liest, sondern wenn man es macht.

Bekannt ist, das Haiku sollte einem bestimmten Silbenschema genügen: 5 + 7 + 5 = 17. Von dieser Zahl darf abgewichen werden, wenn es sich ergibt. Weniger bekannt sind die drei Regeln:

  1. Erwähnung eines Naturgegenstands und Zuordnung zu oder Andeutung von einer Jahreszeit.

  2. Darstellung eines einmaligen Ereignisses, einer einmaligen Situation.

  3. Das Geschehen vollzieht sich in unmittelbarer, unvollendeter Gegenwart.

Haiku ist spontanes Spiel im Konkreten. Es gibt keine Dualismen wie Geist -- Leben, Sein -- Erkennen oder dergleichen, keine Zeit, wie sie Andenken oder Erinnerung umfassen, keinen tiefen Ernst. Ich und Welt sind durch nichts getrennt (nicht etwa durch Nichts). Das Ich gehört zur Welt. Es ist eingebettet, ein Ding wie alle, oder die Dinge sind so individuell, erfahrungsschwer wie das Ich.

Beispiel:

Im Spiegel seh ich
mich als nicht mich. Was für ein
Frühlingsgelächter!

Diskussion:

Ich -- Nicht-Ich: Dualismus? Sieh zu! Der Spiegel ist das Zentrum. Mein Bild, reflektiertes Licht, zeigt mich als Natur, seelenlos. Na klar! Heiterkeit. Spiegel, Bild, Ich, Natur, alles ein einziger Frühling!

Oft wurde auf den Zusammenhang von Haiku und Zen hingewiesen. Gewonnen ist damit wenig. Das europäische Denken, von Grund auf geprägt durch christlichen Dualismus --- mit einem Übergewicht auf der Seite des Geistes --- neigt dazu, Zen spirituell überzuinterpretieren.

Zen ist nicht spirituell. "Offene Weite, nichts von heilig" sind die treffenden Worte aus dem Bi-Yän-Lu. Es geht nicht um Geist, Gott, Seligkeit oder dergleichen. Es geht um nichts als alles, was im Konkreten erscheint.

Theorie des Haiku ist schließlich ein Witz. Es erscheint allein im praktischen Verfahren.

Du mache Feuer, und ich
will Dir was Schönes zeigen:
einen Ball aus Schnee.

Bashô

1998 - 2024 © Ingo Schramm